Die Lösung des Umweltproblems ist nicht nur eine Frage von Daten und politischen Instrumenten
Matthias Boehning schildert seine Eindrücke nach der Teilnahme an der Weltklimakonferenz COP27 in Ägypten. Er vertrat die Weltweite Evangelische Allianz.
JOEL FORSTER, SHARM EL SHEIKH – 22. NOVEMBER 2022
Ein Erfolg oder eine Enttäuschung im Kampf für eine nachhaltigere Welt? Die Antwort nach jeder COP (Conference of the Parts) ist immer schwierig zu beantworten.
Sicher ist, dass die COP27 in Sharm El-Sheikh eine Veranstaltung war, bei der Glaubensgemeinschaften, insbesondere Christen, stärker vertreten waren als zuvor.
Das sagte Matthias K. Boehning, Co-Direktor des Nachhaltigkeitszentrums der Weltweiten Evangelischen Allianz (Bonn, Deutschland), gegenüber Evangelical Focus, als er Ägypten verließ.
Lesen Sie im folgenden Interview über die Höhen und Tiefen des globalen Klimatreffens und die Rolle, die Christen bei der Sorge um den Planeten spielen sollten.
Frage. Was hat Sie in Sharm El Sheikh am meisten ermutigt?
Antwort. Trotz der ernüchternden, zum Teil sehr enttäuschenden Ergebnisse der Weltklimakonferenz gab es in Sharm El-Sheikh viele sehr ermutigende Aspekte. An erster Stelle möchte ich die enorme Präsenz und Öffentlichkeitswirkung der Zivilgesellschaft nennen. Dies war gerade deshalb so ermutigend, weil es für viele Konferenzteilnehmer eine echte Überraschung war.
Im Vorfeld der Konferenz gab es guten Grund zur Sorge, dass die Stimmen der Zivilgesellschaft in einem Land wie Ägypten, das nicht zimperlich mit Menschenrechtsgruppen und anderen Aktivisten der Zivilgesellschaft umgeht, im Rahmen der Klimakonferenz kaum Gehör finden würden.
Dazu trug auch bei, dass der Strand- und Tauchort Sharm El-Sheikh zwar ein wunderbares Reiseziel ist, aber für zivilgesellschaftliche Organisationen mit knappen Budgets unerschwingliche Übernachtungspreise mit sich bringt. Vor diesem Hintergrund war es beeindruckend, täglich lautstarke Demonstrationen (insbesondere mit der Forderung nach einem vollständigen Ausstieg aus fossilen Brennstoffen), Gruppentänze und sogar kleine Demonstrationsmärsche nicht nur vor dem Eingang zur COP27, sondern auch in der so genannten «Blue Zone» (dem inneren Konferenzbereich, zu dem nur Vertreter akkreditierter Organisationen exklusiven Zugang haben) zu sehen. In meiner persönlichen Wahrnehmung waren vor allem die Aktivitäten innerhalb der «Blue Zone» stärker und umfangreicher als je zuvor bei den Klima-COPs, die ich bisher selbst miterlebt habe.
Als zweiten Punkt möchte ich die zahlenmäßig starke Präsenz glaubensorientierter Organisationen und ihre umfangreichen Aktivitäten (Diskussionsrunden, Pressekonferenzen, thematische Veranstaltungen usw.) innerhalb der «Blue Zone» erwähnen. Ich besuche nun schon seit mehreren Jahren globale UN-Konferenzen, aber ich habe noch nie ein solches Niveau und eine solche Tiefe an vom Glauben inspirierten Inhalten erlebt. Und es macht einen Unterschied, dass die Akteure des Glaubens ihre Stimme erheben: Denn bei der Lösung des Problems des Klimawandels geht es nicht nur um Daten, technische Lösungen und politische Instrumente. Die Umweltkrise, die wir erleben, ist in erster Linie eine moralische und spirituelle Krise, die auf der Ebene des Einzelnen, mit seinen Einstellungen und Ansichten, existiert und sich global summiert.
F. Was sind die wichtigsten Ziele, die auf der COP27 nicht erreicht wurden?
A. Während die Entscheidung, einen globalen «Loss and Damage Fund» einzurichten, nach einhelliger Meinung von Regierungsvertretern aus aller Welt sowie der teilnehmenden Beobachter ein «historischer Sieg» der COP27 war, wurden in anderen Bereichen leider nur wenige Fortschritte erzielt.
An erster Stelle steht die dringende Notwendigkeit, entschieden gegen den weiteren Anstieg der CO2-Emissionen vorzugehen. Der Text der Abschlusserklärung enthält weder ein klares Bekenntnis zur globalen Reduktion der CO2-Emissionen ab 2025 (die neuesten wissenschaftlichen Berichte fordern genau dies, um das Ziel einer maximalen Erderwärmung von 1,5° überhaupt einhalten zu können), noch eine weitere Konkretisierung des auf der COP26 in Glasgow formulierten Ziels eines globalen Kohleausstiegs.
Ebenso fehlen in dem Text ein klares Bekenntnis zum schrittweisen Ausstieg aus allen fossilen Brennstoffen oder klare Formulierungen zur Wahl akzeptabler Energieformen für die weitere Entwicklung der Länder weltweit. All dies ist sehr enttäuschend, und nicht wenige Regierungsvertreter (insbesondere Frans Timmermanns, Vizepräsident der Europäischen Kommission, und der Vertreter Australiens, der für die so genannte «Umbrella Group» sprach) wiesen frustriert darauf hin, dass mit den schwachen Beschlüssen von Sharm El-Sheikh der ehrgeizige Weg zu einem Maximum von 1,5° kaum zu halten sein wird.
F. Welchen Beitrag haben Sie als Vertreter der evangelischen Christen zu den Versammlungen geleistet, an denen Sie teilgenommen haben?
A. Als Weltweite Evangelische Allianz waren wir an zahlreichen Veranstaltungen und Aktivitäten im Vorfeld der COP und vor Ort in Ägypten beteiligt. So konnten wir die Perspektiven evangelischer Christen weltweit wirkungsvoll in den Konferenzverlauf einbringen. Wir besuchten Länderpavillons mit unserer Weltkarte der Gebete für die Schöpfung und informierten die Vertreter der verschiedenen Länder über die ortsspezifischen Gebete der Christen aus ihren Heimatländern.
In bilateralen Gesprächen mit Entscheidungsträgern überbrachten wir die Forderungen der Christen an die Klimakonferenz, die von der Kampagne «Renew Our World» gesammelt wurden. Unser Generalsekretär, Dr. Thomas Paul Schirrmacher, war einer der prominentesten Unterzeichner einer Erklärung mit dem Titel «Faith leaders› urgent call for higher ambition at COP27», in der einige wichtige Positionen in der Endphase der Verhandlungen bekräftigt wurden.
Ein persönliches Highlight war für mich das vertrauliche Gespräch mit der Umweltministerin eines führenden Industrielandes, in dem ich ihr vermitteln konnte, dass zahlreiche Christen in aller Welt für sie beten und ihre Hoffnung auf ein hohes Maß an Ehrgeiz im Kampf gegen den Klimawandel in sie setzen. Nach unserem kurzen Gespräch wandte sich die Ministerin sichtlich bewegt wieder ihren Unterlagen zu, um sich auf ihren nächsten Termin vorzubereiten.
F. Gibt es andere Initiativen christlicher Organisationen, die Sie in diesen Tagen in Sharm-El Sheik interessant fanden?
A. Die christliche Renew Our World-Kampagne von Tearfund und zahlreichen Partnerorganisationen aus den verschiedensten Ländern der Welt war mit einer großen Aktivistengruppe vor Ort vertreten und hat Kernforderungen aus christlicher Sicht zahlreichen Konferenzteilnehmern – von der thematischen Experten- bis zur Ministerebene – wirkungsvoll vermittelt. Als WEA sind wir Teil von Renew Our World und unterstützen die Kampagne nach Kräften.
Auch das Programm der christlichen Klimabeobachter war mit einer großen Gruppe in Sharm El-Sheikh vertreten und leistete erneut hervorragende Arbeit. Mein WEA-Kollege Dr. Chris Elisara, Co-Direktor des Nachhaltigkeitszentrums der Weltweiten Evangelischen Allianz, ist Teil des Leitungsteams dieses Programms.
Über evangelische Kreise hinaus waren wir an der Bildung einer neuen multireligiösen, sektorübergreifenden Allianz für Klimaschutz beteiligt. Die Initiative ging vor allem von der ACT Alliance und der Partnerschaft für Glauben und Entwicklung aus. Ziel ist es, konkrete Kooperationsprojekte zwischen glaubensbasierten und säkularen Akteuren in vier Handlungsfeldern voranzutreiben: Systematisches Engagement glaubensbezogener Medien zu Klimafragen, Entwicklung eines glaubensübergreifenden Fonds für gerechten Übergang, eine globale Initiative für den Zugang zu Energie und Mobilisierung von Frauen und Jugendlichen für das Erreichen von Zielen in Bezug auf Kohlenstoffemissionen durch das Engagement von weiblichen Glaubensführern und ihren Netzwerken.
F. Was würden Sie evangelischen Christen in aller Welt über den Zustand des Planeten sagen?
A. Leider kann man nicht um den heißen Brei herumreden und vage bleiben. Der Zustand unseres Planeten ist sehr besorgniserregend. Wenn Sie wissenschaftliche Fakten darüber lesen wollen, empfehle ich Ihnen den jüngsten Bericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (IPCC).
Mit Blick auf unsere Kinder schreiben die Autoren: «Kinder, die im Jahr 2020 zehn Jahre alt oder jünger sind, werden bei einer globalen Erwärmung von 1,5°C bis zum Jahr 2100 voraussichtlich einen fast vierfachen Anstieg der Extremereignisse erleben. Einen solchen Anstieg der Anzahl extremer Ereignisse würde eine Person, die im Jahr 2020 55 Jahre alt ist, in ihrer verbleibenden Lebenszeit nicht erleben, egal welches Erwärmungsszenario angenommen wird».
Diejenigen, die der Klimawissenschaft eher skeptisch gegenüberstehen, können einfach einen ehrlichen Blick auf die Nachrichten aus aller Welt über extreme Umweltkatastrophen werfen: Die verheerenden Überschwemmungen in Pakistan, bei denen fast 1.700 Menschen starben und mehr als 33 Millionen Pakistaner schwer betroffen waren, waren die schlimmste Naturkatastrophe für das Land seit Jahrzehnten.
Und die diesjährige Hitzewelle in Europa führte zu einer der dramatischsten Waldbrandsaisons, die je auf dem Kontinent verzeichnet wurden. Darüber hinaus gab es 2021 die teuerste Wetterkatastrophe in Europa, eine 43-Milliarden-Dollar-Flut, die Deutschland und Belgien heimsuchte.
Auch ohne Wissenschaft spüren wir es also sowohl zu Hause als auch in der großen weiten Welt: Der Klimawandel findet statt, und er hat schlimme Folgen für uns Menschen, unsere Wirtschaftssysteme und unsere natürliche Umwelt.
F. Was kann getan werden?
A. Wir alle sollten aus tiefstem Herzen verinnerlichen, dass unsere derzeitigen Modelle des Wirtschaftens, der Produktion und des Konsums so nicht mehr weitergehen können. Glaube, Wissenschaft oder gemeinschaftliches, sozial-karitatives Handeln mit anderen Menschen für andere Menschen sind drei mögliche Wege zu dieser Erkenntnis.
Im nächsten Schritt fragen sich viele: Was tragen meine kleinen Aktionen zur Verbesserung der Situation bei? Doch abgesehen davon, dass sich viele einzelne klimafreundliche Handlungen global summieren, geht diese Frage an der Sache vorbei. Denn wenn wir tief im Inneren verstehen, dass unser globales Lebensmodell in Schieflage geraten ist, handeln wir aus Überzeugung anders und setzen uns für die notwendige Veränderung unserer politischen Entscheidungen, unserer Kaufentscheidungen und unseres Lebensstils ein.
Der sanfte, aber unerbittliche Ausgangspunkt dafür könnte sein, dass wir als Gläubige immer wieder tief darüber nachdenken, was es im Jahr 2022 bedeutet, Gott zu lieben (den Schöpfergott, der uns sein kostbares Geschenk der Schöpfung anvertraut hat) und meinen Nächsten zu lieben (einschließlich meines globalen Nächsten, der in vielen Teilen der Welt katastrophal unter den Auswirkungen des Klimawandels leidet).
Dieser Bericht erschien ursprünglich auf Englisch auf der Nachrichten-Website Evangelical Focus.